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„Raum anders denken – individuell, universell, alltagstaug­

lich, barrierefrei“ oder „Der kurze Weg zum Glück“, wie

ich es oft in meinen Vorträgen nenne. Die Reaktion unter

meinen Zuhörern auf diesen Titel ist überall gleich: Was

hat Barrierefreiheit denn mit Glück zu tun? Gegenfrage:

Warum kann Barrierefreiheit nicht mit Glück zu tun haben?

Es geht um die Wahrnehmung unserer Umwelt – und darum,

wie wir uns in ihr bewegen. Wenn das Spaß macht, kann

Barrierefreiheit durchaus mit Glück zu tun haben!

Barrierefreiheit für alle

Wir Menschen identifizieren uns sowohl über die Selbst­

wahrnehmung als auch über die Fremd-wahrnehmung. Das

heißt: Wie der andere uns erlebt, so erleben wir uns selbst.

Daraus entsteht das individuelle Selbstbewusstsein. Einen

großen Beitrag dazu leistet die gebaute Umwelt – und damit

die Architektur. Mittlerweile hat man zwar schon erkannt,

dass nicht nur Menschen mit Behinderungen eine barriere­

freie Umwelt genießen, sondern zum Beispiel auch Eltern mit

Kinderwagen. Dennoch wird Barrierefreiheit meist mit Alter,

Behinderung und letztendlich mit Hilfsbedürftigkeit gleich­

gestellt. Dies geschieht in Unkenntnis über die vielfältigen

Fähigkeiten, die Menschen individuell entwickeln können. Ich

spreche gerne über das „Päckchen Fähigkeiten“, das jeder

Mensch bei seiner Geburt mitbekommt. Es hängt von vielen

Umständen oder dem jeweiligen Bedarf, aber auch von der

Kultur und dem sozialen Umfeld ab, wie sich zum Beispiel

die individuellen Fähigkeiten entwickeln. So wird der eine

Musiker, der andere Mathematiker und andere wiederum

Dienstleister. Entwickelt ein Mensch nicht die Sehfähigkeit,

so gilt er heute als blind. Er ist es aber nicht, sondern er hat

in seinem Päckchen viele andere Fähigkeiten, die er nun ent­

wickeln kann: Akustik, Haptik und Temperaturempfindungen.

Sie ermöglichen es ihm, sich wieder in unserer gebauten

Umwelt zu orientieren. Wir Sehenden können das nicht,

denn unser Auge verhindert es. Daher ist eine solche

„Behinderung“ eine Bereicherung der Fähigkeiten, die

unsere gesellschaftliche Vielfalt ausmacht und spannend

macht. Wir sollten alles dafür tun, die vielfältigen Fähigkeiten

wahrzunehmen, um daraus Neues zu lernen. Die ständigen

Weiterentwicklungen in der Medizintechnik ermöglichen es

zum Beispiel in vielen Situationen, Menschen ein weitestge­

hend selbstbestimmtes Leben zu ermöglichen. Frühgeburten

können überleben, Unfallverletzte schnell genug versorgt

und somit am Leben erhalten werden. Generell werden wir

durch die medizinische Versorgung heute viel älter als vor

hundert Jahren. Und warum? Wir haben im Laufe der Zeit

Gegebenheiten hinterfragt und neu bewertet. Nur so entwi­

ckelt man sich weiter. Hier liegt auch das Potenzial für die

Architektur: standardisierte Abläufe und Alltagssituationen

zu hinterfragen und gegebenenfalls etwas an ihnen zu

ändern. Als Architekten sollten wir uns darüber Gedanken

machen, wie ein Raum auf seinen Nutzer wirkt. Für das per­

sönliche Selbstbewusstsein ist es aber mindestens ebenso

wichtig, wie andere jemanden im architektonischen Raum

wahrnehmen. Dabei spielt Gestaltung eine große Rolle.

Dazu ein Beispiel: Das Benutzen einer Hebebühne ist für alle

Beteiligten unangenehm. Für den Benutzer, da er wie auf

einem Präsentierteller herausgehoben wird und unfreiwillig

zur Schau gestellt wird. Und auch für die Besucher, da sie

den Benutzer als hilfsbedürftig wahrnehmen und sich betrof­

fen fühlen.

Emotionale Lösungen

Technisch ist das Problem des Wechselns von einer Ebene

zur anderen gelöst, doch das Selbstbewusstsein des

Benutzers wird geschwächt und soziale Teilhabe in der

Folge verhindert. Eine Hebebühne ist immer eine schlech­

te und nie eine architektonische Lösung! Eine zu steile

Rampe signalisiert immer Anstrengung, und die Reaktion

ist: „Oh Gott, der Arme! Muss das schwierig sein!“ Ist die

Neigung jedoch leicht zu befahren, wird es positiv wahrge­

nommen. Das Wort „barrierefrei“ ist gut gemeint. Ich mag

es trotzdem nicht besonders. Viel besser wäre es, einfach

nur „gerecht“ zu bauen. Also Gebäude zu entwerfen, die

von allen Nutzern gleichberechtigt benutzt werden kön­

nen. Egal, wie groß oder klein oder wie mobil oder immobil

sie sind. Egal, welche Sinne zur Orientierung im Raum sie

RAUM ANDERS DENKEN

Zwar gelangen Rollstuhlfahrer im Deutschen Architekturmuseum in

Frankfurt über eine Rampe auf das Treppenpodest, aufschwingende dop­

pelflügelige Türen ohne Automatik stellen für Rollstuhlfahrer jedoch ein

Hindernis dar. (vorherige Seite)

Rampen sollten nicht nur für Rollstuhlfahrer ein bequemer Weg sein,

Höhenunterschiede zu meistern. Im Museum für angewandte Kunst

Frankfurt sind sie allerdings etwas zu steil. (rechts)